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22. März 2023

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22. März 2023

Schule der Zukunft – mit Björn Nölte Lernen im Dialog

Björn Nölte war lange Jahre Lehrer für Deutsch, Geschichte und Politik. Heute arbeitet er in der Schulaufsicht und ist Gründungsmitglied im Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, wo er den Wandel der Schule mit vorantreibt.

In seinen Büchern „Eine Schule ohne Noten: neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung“, das er zusammen mit Philippe Wampfler geschrieben hat, und „Upgrade: Kollaboratives Lernen, Sehen – Fördern – Bewerten“ zeigt er, wie anders schulisches Lernen aussehen kann und dass es beispielsweise auch ohne Noten funktioniert. Grund genug, mit ihm über das Lernen in der Schule der Zukunft zu sprechen, oder?

🎤 Björn, was assoziierst du mit deiner eigenen Schulzeit?

Nichts wie raus hier! Das ist schlimm zu hören, aber es ist wirklich so. Mir haben einzelne Sachen Spaß gemacht, aber im Großen muss ich ehrlich sagen: Das Interessante in meiner Schulzeit waren die Pausen und die Zeit nach der Schule. Das wirkliche Interesse für Schule ging dann danach los. 

🎤 Wenn du zurückblickst: Was hat sich seit deiner Schulzeit getan?  

Eine ganze Menge: Die Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler:innen ist heutzutage eine ganz andere. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, da kannte meine Geschichtslehrerin über ein Jahr meinen Namen nicht. Es war völlig normal, dass man sich zwischen Lehrkraft und Schüler:innen kaum kannte. Diese Beziehung steht heutzutage auf ganz anderen Beinen. Es sind auch viele, viele Lehrkräfte selbstbestimmter unterwegs, haben eigene Ideen, sind innovativ und versuchen, sich Dinge schnell anzueignen. Auch bei den Schüler:innen hat sich eine Menge getan. Wenn ich mir angucke, was meine Schüler:innen alles können, wollen, machen, in die Wege leiten und wofür sie sich verantwortlich fühlen, dann ist das eine völlig andere Klientel. Leider muss man auch sagen, dass sich die Aufgabe von Lehrkräften extrem verändert hat. Früher ging es ums Unterrichten, heute hat man eigentlich 37 Jobs in einem. 

🎤 Was wird in deinen Augen in der „Schule der Zukunft“ die größte Veränderung? 

In meiner Schule der Zukunft ist eine Sache radikal umgesetzt: die Orientierung an den Lernenden. Heute ist es immer noch so, dass die Lernenden sich ganz oft der Schule anpassen müssen. Dass es um eine Anforderung für alle im Gleichschritt geht. Und dass zum Beispiel Referendar:innen ganz, ganz massiv lernen, wie sie unterrichten, aber viel zu wenig, wie Schüler:innen lernen.  

Eine radikale Orientierung an den einzelnen Schüler:innen bedeutet natürlich auch Individualisierung – also individualisierte Lernwege, individualisierte Möglichkeiten, Leistung unter Beweis zu stellen. Es bedeutet auch, dass Variabilität und Verschiedenheit die Norm sind und etwas ganz Wertvolles.  

Einer zweiten Sache würde ich die Überschrift „Entgrenzung“ geben. Ich glaube, wir haben noch sehr viele Grenzen. Beispielsweise räumlich, also wie unsere Schulen aufgebaut sind. Es ist eigentlich ein militärischer Ort, wo im Gleichschritt Räumlichkeiten dafür sorgen, dass vermeintlich homogene Gruppen gleich unterrichtet werden. Es gibt inzwischen super Beispiele von Schulen, die ganz andere Raumauffassungen haben, wo sich Schüler:innen auch wirklich wohlfühlen.  

Eine weitere Entgrenzung dreht sich um das Außen, es geht um eine völlig normale Kooperation mit außerschulischen Partner:innenn, eine ganz andere Zusammenarbeit mit Eltern und auch eine Entgrenzung ins Digitale. Dass Digitalität ein völlig regulärer und normaler Lernort ist und keine Besonderheit in Form von Laptop-Klassen. Und auch eine Entgrenzung in die Authentizität des realen Lebens. So oft ist es absurd, wie begrenzt schulische Aufgaben sind.  

🎤 Gibt es eine Schule, die für dich eine „Schule der Zukunft“ ist?  

Es gibt zum Beispiel eine Schule in Karlsruhe, die Ernst-Reuter-Schule, die haben eine faszinierende Kooperation mit Orten in der Stadt geschafften. Man kann sich bei der Stadt bewerben, ein Lernort der Schule zu werden. Unternehmen, Sportvereine, Kirchen – was auch immer – können ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Dann gehen die Schüler:innen selbstbestimmt zu diesen Orten und lernen da. Es ist faszinierend, wie Schule sich plötzlich nicht mehr anfühlt wie Schule, sondern ganz anders. Ich hätte noch viele andere tolle Schulen. Aber das wäre mal eine. 

🎤 Wie sieht das mit den Lernorten konkret aus? 

Es gibt ein Buchungssystem – das hört sich erst mal unglaubwürdig an, aber es funktioniert tatsächlich richtig gut. Die Schüler:innen können sich den Zutritt zu Lernorten über verschiedene Level verdienen, indem sie zeigen, dass sie selbstständig und eigenverantwortlich lernen können. Bei manchen Lernorten ist dann auch eine Lehrkraft dabei. Aber auch wenn nicht: Durch die Normalität von Digitalem bleiben sie verbunden mit der Lehrkraft. Das heißt jetzt nicht, dass jede Minute immer woanders gelernt wird, aber es gibt diese Optionen. Ich finde, das ist ein tolles Konzept, was räumliche Entgrenzung angeht. 

🎤 Wie sieht das Lernen der Zukunft in deinen Augen aus?  

Ich glaube, es ist am leichtesten, das an einem Beispiel deutlich zu machen. Die Evangelische Schule Berlin Zentrum verwirklicht seit vielen Jahren ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Das heißt, die Schüler:innen werden schon ab dem Grundschulalter daran gewöhnt, selbst Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. Sie setzen sich selbst Ziele und haben regelmäßige Lerndialoge mit den Lehrkräften. Diese Kompetenz wird sukzessive aufgebaut, sodass dann die Schüler:innen zum Beispiel auch entscheiden können, wann sie in welcher Weise ihre Leistung unter Beweis stellen. Sie bestimmen selbst: Wann ist der Zeitpunkt jetzt und wie ist die geeignete Form, um zu meiner Leistungsbewertung zu kommen. Diese Eigenverantwortung benötigt natürlich ein hohes Maß an Zeit, die man mit diesen Lerndialogen verbringt, wo man aber auch Eltern mit einbezieht und andere Beteiligte an diesem Lernprozess. Das führt dazu, dass die Schüler:innen immer selbstständiger werden. Das ist natürlich mit einem hohen Engagement verbunden, aber die Richtung finde ich super. 

🎤 Du hast ein Buch geschrieben mit dem Titel „Kollaboratives Lernen“. Was bedeutet das genau? 

Kollaboration meint heute Zusammenarbeit, eine bestimmte Form der Zusammenarbeit. Es ist etwas anderes als Kooperation, die wir seit Jahrzehnten kennen. Also eine Gruppenarbeit mit vorgegebenen Rollen und Aufgaben: Einer schreibt das Plakat, einer recherchiert, einer hält den Vortrag. Das Endprodukt ergibt sich aus der Zusammenstellung verschiedener Puzzleteile.  

Kollaboration bedeutet, dass jeder für alles verantwortlich ist. Alle arbeiten an allen Teilen. Das Buch „Eine Schule ohne Noten“ habe ich mit Philippe Wampfler zusammen in einem Google-Dokument geschrieben. Inzwischen ist es tatsächlich so, dass wir beide nicht mehr sagen können, welcher Text von wem stammt, da wir an fast allen Teilen gemeinsam dran waren. Wir hätten kooperativ vorgehen können, dann hätte jeder seine Kapitel allein geschrieben. Aber bei uns war es kollaborativ.  

In digitalen Zeiten ist Kollaboration auch eine wichtige Form, die in Projekten häufig verwendet wird. Ich glaube, in der Schule brauchen wir beides – Kooperation und Kollaboration. Wir müssen die Schüler:innen in beidem trainieren und ihnen dann auch die Entscheidung überlassen: Gehen sie so vor oder so? 

🎤 Die Frage ist natürlich: Wie wird bewertet, wenn Schüler:innen kollaborativ zusammenarbeiten? 

Super Frage, Antwort leider unbefriedigend. Wenn man es genau nimmt, geht es nicht. Sobald man Kriterien aufstellt und es auseinandernimmt, ist es nicht mehr Kollaboration. Aber was soll man machen, wir müssen ja bewerten.  

Aber es gibt auch raffinierte Möglichkeiten, wie man Kollaboration erzeugen kann und trotzdem dann Einzelleistung bewertet. Eine davon beschreibe ich in meinem Buch am Beispiel eines Geschichtsunterrichts mit fiktiven Zeitzeugen. Die Schüler:innen schlüpfen dabei für ein Halbjahr in eine fiktive Rolle und müssen aus dieser heraus historische Ereignisse beleuchten. Sie müssen dabei aber zusammenarbeiten und überlegen: Mit welcher anderen Rolle kann ich mich austauschen – und worüber? Und über diese Zusammenkünfte wird dann individuell Tagebuch geführt mit Bildern, Audio- oder Videoaufnahmen. Die Schüler:innen kollaborieren ganz stark, bewertet werden aber die individuellen Tagebücher. Das fand ich ganz geschickt, um Kollaboration wirklich anzustoßen, aber trotzdem reell bewerten zu können. 

🎤 Brauchen wir in der „Schule der Zukunft“ überhaupt noch Noten? Oder gibt es keine Bewertungen mehr?

Bei unserem Buch „Eine Schule ohne Noten“ ist der Untertitel wichtig. Der heißt: „Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung“. Mir ist klar: Wir können nicht über Nacht Noten abschaffen oder durch Sternchen und Raster ersetzen. Das macht die Sache auch nicht besser. Wir müssen zu einem anderen Umgang mit Leistung kommen. Wenn die Bedeutung von Noten sinkt, ist schon mal sehr viel gewonnen, denn die Erfahrung zeigt: Noten beenden Lernprozesse und sind immer schädlich. Auch gute Noten motivieren ja nur, bis sie erteilt sind. Danach wird nicht weitergearbeitet. Schlechte Noten sind sowieso der Horror. Und wenn man sich anguckt, wo an Schulen wirklich anders mit Lernentwicklungsgesprächen, mit anderen Feedbackmöglichkeiten gearbeitet wird, dann sieht man, da explodiert die Leistung. Verzicht auf Noten heißt nicht automatisch geringere Anforderungen. Ganz im Gegenteil. Aber das ist ein langer Weg zu einem anderen Umgang mit Leistung. Doch er ist lohnend – und am Ende kann vielleicht irgendwann tatsächlich Notenfreiheit stehen. Was an vielen Orten der Welt auch schon Wirklichkeit ist. 

Eine Idee aus dem Buch „Upgrade: Kollaboratives Lernen“: Testtalks 
Eine bereits heute umsetzbare Idee mit riesiger Wirkung 
 
Darum geht’s: Vor einer Klassenarbeit findet eine Phase der Kollaboration statt. Die Schüler:innen bekommen fünf Minuten Zeit, sich mit den Aufgaben vertraut zu machen. In den folgenden fünf Minuten dürfen sie in selbst gewählten Gruppen über die Aufgaben sprechen. Erst danach beginnt die Klassenarbeit.  
 
Das Ergebnis ist eine starke Wirkung bei allen Beteiligten. Die Schüler:innen sind in der Situation viel leistungsbereiter, da durch die Kollaborationsphase (und die Aussicht darauf) Ängste abgebaut werden. Dadurch schnellen auch die Ergebnisse der Klassenarbeiten in die Höhe.  
 
Es ist nicht so, dass alle Schüler:innen zu den vermeintlich Besten rennen und sich die Lösungen besorgen. Dafür bleibt keine Zeit. Die Schüler:innen profitieren von den unterschiedlichen Gesprächen, selbst wenn sie nur irgendwo dabeisitzen und zuhören. Man kann sich noch mal absichern zu einem bestimmten Begriff oder einer Herangehensweise.

🎤 Wir sind gestartet mit deiner Assoziation zu deiner eigenen Schulzeit: Nichts wie raus hier! Wenn du an die Schule der Zukunft denkst, welche Assoziation bekommst du da? 

Da habe ich eine konkrete Situation vor Augen: Ich habe mit meinen Schüler:innen zur Abiturvorbereitung Barcamps* gemacht. Die Schüler:innen saßen auf dem Sportplatz, kamen am Wochenende freiwillig gerne in die Schule. Und wir hatten alle das Gefühl: Das fühlt sich nicht wie Schule an. Diese Atmosphäre, die da herrschte, ist für mich zukunftsfähig. Also dass Schüler:innen gerne dahinkommen, im besten Fall auch noch Freund:innen mitbringen oder von mir aus ihren Hund. Dieses Gefühl, was sich da eingestellt hat, – wenn man das auf einer breiteren Basis etablieren kann, das wäre für mich „Schule der Zukunft“. 

Noch was auf die Augen und Ohren? 
Das Interview mit Björn Nölte ist eine gekürzte Fassung unseres Instagram-Live-Gesprächs „Lernen im Dialog“. Wenn Sie das spannende Interview in voller Länge anschauen möchten, kommen Sie einfach auf unserem Instagram-Kanal vorbei. Es lohnt sich!

*In einem schulischen Barcamp organisieren die Schüler:innen selbst kleine Sessions. Für diese bieten sich Schüler:innen an, die bestimmte Lerninhalte gut verstanden haben. Oder Schüler:innen haben bestimmte Fragen zu Lerninhalten, zu denen sie sich eine Session wünschen. Anhand der Themen wird ein Zeitplan aufgestellt und dann finden sich die Schüler:innen zu Gruppen zu den Sessions zusammen, die sie interessieren. 

Von Anita Vetter