Anfuehrungszeichen

2020: Das Jahr der Herausforderungen! Vor allem Familien mussten mit dem ersten Lockdown im März an ihre Grenzen gehen. Eltern wurden über Nacht – zusätzlich zum Job und dem Haushalt – zur Lehrkraft, zum Lern-Motivator und Freizeit-Manager. Höchste Zeit, die Eltern-Kind-Beziehung nach diesen aufreibenden Monaten etwas zu entspannen und Eltern wieder nur Eltern sein zu lassen.

Das geht am besten mit kleinen, alltäglichen Familienritualen. Diese stärken die Bindung zwischen Eltern und Kind – wie die Gute-Nacht-Geschichte. Eine aktuelle Studie von der „Stiftung Lesen“, DIE ZEIT und Deutsche Bahn zeigt auf, dass rund ein Drittel aller Eltern ihrem Kind nur selten oder nie vorlesen. Das betrifft in etwa 1,6 Millionen Kinder – eine seit Jahren konstante Zahl.

Häufig sind fehlende Zeit, Erschöpfung und Alltagsstress der Grund. Dabei verbindet gemeinsames (Vor-)Lesen, fördert das Kind, bereitet es auf die Schule vor und entspannt so das Familienleben.

Vorlesen als gemeinsame Erfahrung

Vorlesen: Perfekt für gemütliche Familienzeit.

Sicherlich ist Vorlesen für Kinder auch eine willkommene Abwechslung, um das Schlafen gehen hinauszuzögern. Doch vor allem ist es eine emotionale Erfahrung, die Eltern mit ihrem Kind teilen können: es genießt wertvolle, gemütliche Zweisamkeit mit Mama oder Papa, entspannt sich beim Kuscheln auf der gemeinsamen Couch und es entstehen beim Zuhören spannende Bilder im Kopf. Das tut nicht nur der individuellen Entwicklung des Kindes, sondern auch der Beziehung gut.

Ob Märchen, Fabel oder Bilderbuch: Lesen Eltern ihrem Kind vor, hört es konzentriert zu und setzt sich gedanklich mit dem Text und dessen Inhalt auseinander. Dadurch lernt es viele Wörter und Satzstrukturen kennen – das erweitert den Wortschatz und verbessert die Ausdrucksfähigkeit. Auch die Konzentration wird gesteigert. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, können sich in der Schule besser konzentrieren und länger zuhören. Doch nicht nur das!

Jede Geschichte fördert Schulerfolg

Mit jedem Buch das Kind stärken – und die Beziehung.

Vorlesen fördert zudem die Auffassungsgabe des Kindes, die eigene Sprachfähigkeit und soziale Kompetenz. Auch das Einfühlungsvermögen und die Kreativität werden gestärkt. Während des Vorlesens versetzt sich das Kind nämlich in die Lage seiner „Lieblingshelden“ und fühlt mit ihnen mit. Zudem behandeln viele Kinderbücher Themen aus dem Alltag. Bücher bereiten Kinder damit auch auf das wirkliche Leben vor.

Bereits 15 Minuten tägliches Vorlesen reichen aus, um dem Kind für die Zukunft was Gutes zu tun und die Beziehung zu pflegen – auch dann noch, wenn es in der Grundschule schon Lesen gelernt hat. Jede Geschichte, jedes Buch und jedes kleine Vorlese-Familien-Ritual stärken das Kind fürs Leben. Es vermittelt Wissen, Emotionen und verhilft zu einem selbstbestimmten Leben. Das alles in Mamas und Papas Armen – was kann es Schöneres geben?

Unser Tipp: Wenn Sie Ihr Kind dazu bringen möchten mehr zu lesen, versuchen Sie die “Cliffhanger-Taktik”. Lesen Sie bis zum spannenden Teil des Buches vor und lassen Sie dann Ihr Kind übernehmen – wenn es denn erfahren möchte, wie die Geschichte ausgeht.

Anfuehrungszeichen

Das Corona-Jahr 2020: Krise oder Chance für die deutsche Bildungslandschaft? Was trifft eher zu?

Das sind natürlich sehr starke Aussagen – Krise oder Chance. Beides trifft zu und auch wieder nicht. Diese Zeit ausschließlich als Chance zu bezeichnen, in Situationen, in der viele Menschen um ihre Existenz bangen, ist wohl eher ist nicht angemessen. Auch Schulen und allen voran die Kinder stecken nicht gerade in einer rosigen Situation. Dennoch könnte man sagen: Diese Zeit birgt auch Chancen für den Bildungsbereich.

Welche Chancen sind das?

Eine Chance wäre: Endlich der Vermittlung von Fähigkeiten, die Kinder nachhaltig gebrauchen können, mehr Raum zu geben – nicht nur dem reinen Lernstoff-Lernen. Von dem Lernstoff, den Kinder jetzt in der Schule lernen, behalten sie dauerhaft nur 5 Prozent, also verdammt wenig!

Was wirklich nachhaltig hängen bleibt und für die Zukunft relevant sein wird, ist nicht der reine Lernstoff, sondern sind die Fähigkeiten, die Kinder erlernen sollten?

Corona hat einiges offen gelegt an Mängeln, aber auch an Potenzialen: In sehr kurzer Zeit musste Unterricht auf digitales Lernen/ Remote-Lernen umgestellt werden, und Kinder waren von jetzt auf gleich mit der Aufgabe des selbstständigen Lernens konfrontiert. Also nicht nur der Aufgabe, sich den Lernstoff anzueignen, sondern überhaupt erst einmal zu sehen: Wie gehe ich damit um? Wie erarbeite ich mir das, wenn kein Lehrer vorne steht und mir alles erklärt? Das ist eine immens wichtige Fähigkeit: das Lernen zu können. Gerade in Zeiten wie diesen, in der klassischer Frontalunterricht teilweise aufgelöst werden muss, hätten wir die Chance und eigentlich auch dringende Aufgabe, diese grundlegende Fähigkeit des “Lernen lernen” stärker in den Lehrplänen zu verankern. Das hilft nicht nur jetzt, in dieser sehr wechselhaften Schulzeit 2020, sondern ist auch die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft der Kinder.

Das Lernen lernen – manche Eltern werden nun sicherlich sagen: Ohje, noch ein zusätzlicher Punkt auf dem vollen Stundenplan meines Kindes jetzt auch noch das Lernen selbst lernen, sollten wir Kinder nicht einfach mal in Ruhe lassen…?

Das ist erst einmal eine sehr zugewandte und verständliche Reaktion. Schließlich wollen wir Kindern das Leben nicht schwerer machen und ihnen nicht noch mehr aufbürden. Aber genau dafür ist die Fähigkeit des “Lernen können” so wertvoll: Sie erleichtert und verbessert den Lernprozess dauerhaft, macht Kinder unabhängiger von Unterrichtsformen und nachweislich erfolgreicher in Schule, Studium und Beruf. Wenn Kinder wissen, wie und mit welchen Techniken sie sich Lernstoff selbst aneignen, lernen sie viel leichter und auch schneller! Diese Fähigkeit ist also nichts Zusätzliches, sondern im Gegenteil: Sie spart sogar dauerhaft Zeit und Aufwand und ermöglicht, dass in Familien viel mehr Zeit für Freizeitaktivitäten bleibt.

Lernexperte Jürgen Möller mit Akademie-Maskottchen Karlchen (Foto: Henning Ross).

Als Corona-Maßnahmen griffen und alle zu Hause blieben, dachten wir: Nach dem Sommer wird alles wieder normal. Dann öffneten die Schulen und heute sind zahlreiche Schüler und Lehrer in Quarantäne. Also nichts ist normal, und es ist ungewiss, wann das wieder so sein wird. Wie ermutigen Sie Eltern, die sich in Ihrer Sprechstunde an Sie wenden? Was hilft Familien, durchzuhalten?

Zunächst: Es kann passieren, dass wir zumindest noch über einen längeren Zeitraum hinweg mit hybridem Unterricht leben müssen – einem Wechsel aus Homeschooling, Quarantäne und Präsenzunterricht, also Unterricht, der mal in der einen oder anderen Form stattfindet. Ohne in eine Glaskugel schauen zu können: Es kann sein, dass wir uns hier auf eine Langstrecke einrichten müssen. Das Wichtigste ist, dabei im Auge zu behalten, worum es geht nämlich um eine immens wichtige Zeit, die Kindheit. Die Kinder haben viel zu stemmen! Erleichtern wir ihnen das, indem wir ihnen die richtigen Fähigkeiten vermitteln und den Spaß zurückerobern, den Lernen bringt.

Was geben Sie Eltern mit, die befürchten, dass ihr Kind durch Corona zu wenig lernt und nun wissen möchten, was sie selbst tun können? 

Um Eltern zu entlasten, kann ich auch immer wieder nur ermutigen, sich bewusst zu machen: So schwierig diese Zeit war und ist in puncto Lernen – das, was die Kinder in diesen Zeiten „en passant“ nebst allem Schulstoff in der Homeschooling-Zeit lernen, ist viel wert. Das selbstständige Lernen, der Umgang mit digitalen Plattformen und auch die Zeit, die Eltern und Schüler gemeinsam beim Lernen verbracht haben – das ist auch positiv, gerade in Hinblick auf die Zukunft der Kinder! Viele Kinder haben z.B. in der Zeit entdeckt, wann sie am besten lernen. Dass sie Pausen machen müssen, um dann wieder mit Spaß an den Schreibtisch zu gehen. Das ist sehr viel wert. Wenn Eltern jetzt wissen wollen, was sie tun können, dann sage ich oft: Ihr müsst nicht noch mehr tun. Ihr tut schon so viel! Ihr seid Motivator, Lehrer, Nachhilfe, Homeschooling-Coach: Versucht den Kindern Wege zu vermitteln, wie sie das Lernen zunehmend alleine bewältigen und ihren Spaß wiederfinden. Durch Lerntechniken, gute Lerncoachings und -trainings oder ganz einfach kleine Veränderungen im Familienalltag. Gönnt euch auch mal die ein oder andere Mahlzeit bewusst ohne Gespräche übers Lernen. Lasst euch trotz Corona und Co. den Spaß am Lernen nicht nehmen. Denn erstens lernt man weniger erfolgreich. Und zweitens: Die Kindheit ist viel zu wichtig und schön, um sich den Spaß am Lernen, einer so immens wichtigen Fähigkeit, nehmen zu lassen.

Jürgen Möller, pädagogischer Leiter der Akademie für Lernpädagogik (Foto: Henning Ross).

Jürgen Möller ist Leiter der Akademie für Lernpädagogik, Lehrer und Bildungsaktivist. Die Corona-Krise hat auch seine Biografie verändert: War er bis Frühjahr 2020 noch erfolgreich mit zahlreichen Vorträgen live in Schulen unterwegs, vermittelt er sein Wissen und Tipps für Eltern und Kinder nun in Online-Seminaren und -trainings. Dabei steht er Eltern mit Rat, Know-how und Empfehlungen für den Alltag zur Seite.